The Project Gutenberg EBook of Immensee, by Theodor W. Storm
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Title: Immensee
Author: Theodor W. Storm
Release Date: October, 2004 [EBook #6651]
[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
[This file was first posted on January 9, 2003]
Edition: 10
Language: German
Character set encoding: ASCII
*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, IMMENSEE ***
Delphine Lettau, Charles Franks, and the Online Distributed Proofreading
Team.
IMMENSEE
VON
THEODOR W. STORM
VORREDE
Wir befinden uns am Anfang einer neuen Aera, deren hauptsaechliches
Kennzeichen hoffentlich eine allgemeine Annaeherung der Nationen unter
einander sein wird. Immer mehr wird es als Notwendigkeit empfunden,
dass wir uns gegenseitig besser kennen und verstehen lernen. Daraus
ergiebt sich, dass das Erlernen der fremden Sprachen immer eine
wichtigere Rolle spielen wird; denn soweit die Sprache, die Literatur
und die Musik in Betracht kommen, kann man mit vollem Recht behaupten:
fas est et ab hoste doceri.
Also werden diejenigen, welche sich mit der Sprache irgend eines
Nachbarvolkes vertraut machen wollen, oder ihre vor laengerer Zeit
erworbenen Kenntnisse schon teilweise verlernt haben sollten, diese
Ausgabe willkommen heissen, welche sie in den Stand setzen wird,
derartigen Sprachstudien die Zeit zu widmen, ueber welche sie im Laufe
des Tages fuer solche Zwecke verfuegen koennen, ohne auf grosse und
schwere Woerterbuecher angewiesen zu sein.
Die Wahl der Texte hat nicht nur ihr literarischer Wert beeinflusst,
sondern auch die Nuetzlichkeit ihres Wortschatzes, und gleicherweise im
Bezug auf die Uebersetzungen wurde es bezweckt, mit einem vornehmen
Stil die moeglichste Worttreue zu vereinigen.
EINLEITUNG
THEODOR W. STORM, Dichter und Novellist (1817-1888), stammte aus
Schleswig, liess sich 1842 als Advokat in seiner Vaterstadt Husum
nieder, verlor aber 1853 als "Deutschgesinnter" sein Amt, und musste
sich nach Deutschland wenden. Erst 1864 durfte er nach Husum
zurueckkehren, wo er 1874 zum Oberamtsrichter befoerdert wurde.
Schon 1843 machte er sich als Lyriker und Romantiker bekannt, nahm aber
erst als Novellist eine hervorragende Stellung ein, und zwar als er
1852 mit der Erzaehlung Immensee aufs gluecklichste debuetierte.
In der langen Reihe von phantasie- und gemuetsreichen Novellen, die
darauf folgten, und deren Stoff meist aus dem laendlichen und
buergerlichen Kleinleben seiner naechsten Umgebung entnommen ist, hat
er nichts geschrieben, das diese anmutige Erzaehlung an Tiefe und
Zartheit der Empfindung uebertrifft; und ist die deutsche Literatur an
Novellendichtung ausserordentlich reich, so zaehlt doch Storm
ueberhaupt noch heute unter den Meistern.
DER ALTE
An einem Spaetherbstnachmittage ging ein alter wohlgekleideter Mann
langsam die Strasse hinab. Er schien von einem Spaziergange nach Hause
zurueckzukehren, denn seine Schnallenschuhe, die einer
voruebergegangenen Mode angehoerten, waren bestaeubt.
Den langen Rohrstock mit goldenem Knopf trug er unter dem Arm; mit
seinen dunklen Augen, in welche sich die ganze verlorene Jugend
gerettet zu haben schien, und welche eigentuemlich von den
schneeweissen Haaren abstachen, sah er ruhig umher oder in die Stadt
hinab, welche im Abendsonnendufte vor ihm lag.
Er schien fast ein Fremder, denn von den Voruebergehenden gruessten ihn
nur wenige, obgleich mancher unwillkuerlich in diese ernsten Augen zu
sehen gezwungen wurde.
Endlich stand er vor einem hohen Giebelhause still, sah noch einmal in
die Stadt hinaus und trat dann in die Hausdiele. Bei dem Schall der
Tuerglocke wurde drinnen in der Stube von einem Guckfenster, welches
nach der Diele hinausging, der gruene Vorhang weggeschoben und das
Gesicht einer alten Frau dahinter sichtbar. Der Mann winkte ihr mit
seinem Rohrstock.
"Noch kein Licht!" sagte er in einem etwas suedlichen Akzent, und die
Haushaelterin liess den Vorhang wieder fallen.
Der Alte ging nun ueber die weite Hausdiele, durch einen Pesel, wo
grosse eichene Schraenke mit Porzellanvasen an den Waenden standen;
durch die gegenueberstehende Tuer trat er in einen kleinen Flur, von wo
aus eine enge Treppe zu den obern Zimmern des Hinterhauses fuehrte. Er
stieg sie langsam hinauf, schloss oben eine Tuer auf und trat dann in
ein maessig grosses Zimmer.
Hier war es heimlich und still; die eine Wand war fast mit Repositorien
und Buecherschraenken bedeckt, an den andern hingen Bilder von Menschen
und Gegenden; vor einem Tisch mit gruener Decke, auf dem einzelne
aufgeschlagene Buecher umherlagen, stand ein schwerfaelliger Lehnstuhl
mit rotem Samtkissen.
Nachdem der Alte Hut und Stock in die Ecke gestellt hatte, setzte er
sich in den Lehnstuhl und schien mit gefalteten Haenden von seinem
Spaziergange auszuruhen. Wie er so sass, wurde es allmaehlich dunkler;
endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gemaelde
an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiter rueckte, folgten
die Augen des Mannes unwillkuerlich.
Nun trat er ueber ein kleines Bild in schlichtem schwarzem Rahmen.
"Elisabeth!" sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war
die Zeit verwandelt: er war in seiner Jugend.
* * * * *
DIE KINDER
Bald trat die anmutige Gestalt eines kleinen Maedchens zu ihm. Sie
hiess Elisabeth und mochte fuenf Jahre zaehlen, er selbst war doppelt
so alt. Um den Hals trug sie ein rotseidenes Tuechelchen; das liess ihr
huebsch zu den braunen Augen.
"Reinhard!" rief sie, "wir haben frei, frei! den ganzen Tag keine
Schule, und morgen auch nicht."
Reinhard stellte die Rechentafel, die er schon unterm Arm hatte, flink
hinter die Haustuer, und dann liefen beide Kinder durchs Haus in den
Garten und durch die Gartenpforte hinaus auf die Wiese. Die
unverhofften Ferien kamen ihnen herrlich zustatten.
Reinhard hatte hier mit Elisabeths Hilfe ein Haus aus Rasenstuecken
aufgefuehrt; darin wollten sie die Sommerabende wohnen; aber es fehlte
noch die Bank. Nun ging er gleich an die Arbeit; Naegel, Hammer und die
noetigen Bretter waren schon bereit.
Waehrend dessen ging Elisabeth an dem Wall entlang und sammelte den
ringfoermigen Samen der wilden Malve in ihre Schuerze; davon wollte sie
sich Ketten und Halsbaender machen; und als Reinhard endlich trotz
manches krumm geschlagenen Nagels seine Bank dennoch zustande gebracht
hatte und nun wieder in die Sonne hinaustrat, ging sie schon weit davon
am andern Ende der Wiese.
"Elisabeth!" rief er, "Elisabeth!" und da kam sie, und ihre Locken
flogen.
"Komm," sagte er, "nun ist unser Haus fertig. Du bist ja ganz heiss
geworden; komm herein, wir wollen uns auf die neue Bank setzen. Ich
erzaehl' dir etwas."
Dann gingen sie beide hinein und setzten sich auf die neue Bank.
Elisabeth nahm ihre Ringelchen aus der Schuerze und zog sie auf lange
Bindfaeden; Reinhard fing an zu erzaehlen: "Es waren einmal drei
Spinnfrauen--" [Fussnote: So faengt ein wohlbekanntes Maerchen von den
Gebruedern Grimm an.]
"Ach," sagte Elisabeth, "das weiss ich ja auswendig; du musst auch
nicht immer dasselbe erzaehlen."
Da musste Reinhard die Geschichte von den drei Spinnfrauen stecken
lassen, und statt dessen erzaehlte er die Geschichte von dem armen
Mann, der in die Loewengrube geworfen war.
"Nun war es Nacht," sagte er, "weisst du? ganz finstere, und die Loewen
schliefen. Mitunter aber gaehnten sie im Schlaf und reckten die roten
Zungen aus; dann schauderte der Mann und meinte, dass der Morgen komme.
Da warf es um ihn her auf einmal einen hellen Schein, und als er
aufsah, stand ein Engel vor ihm. Der winkte ihm mit der Hand und ging
dann gerade in die Felsen hinein."
Elisabeth hatte aufmerksam zugehoert. "Ein Engel?" sagte sie: "Hatte er
denn Fluegel?"
"Es ist nur so eine Geschichte," antwortete Reinhard; "es gibt ja gar
keine Engel."
"O pfui, Reinhard!" sagte sie und sah ihm starr ins Gesicht.
Als er sie aber finster anblickte, fragte sie ihn zweifelnd: "Warum
sagen sie es denn immer? Mutter und Tante und auch in der Schule?"
"Das weiss ich nicht," antwortete er.
"Aber du," sagte Elisabeth, "gibt es denn auch keine Loewen?"
"Loewen? Ob es Loewen gibt? In Indien; da spannen die Goetzenpriester
sie vor den Wagen und fahren mit ihnen durch die Wueste. Wenn ich gross
bin, will ich einmal selber hin. Da ist es viel tausendmal schoener als
hier bei uns; da gibt es gar keinen Winter. Du musst auch mit mir.
Willst du?"
"Ja," sagte Elisabeth; "aber Mutter muss dann auch mit, und deine
Mutter auch."
"Nein," sagte Reinhard, "die sind dann zu alt, die koennen nicht mit."
"Ich darf aber nicht allein."
"Du sollst schon duerfen; du wirst dann wirklich meine Frau, und dann
haben die andern dir nichts zu befehlen."
"Aber meine Mutter wird weinen."
"Wir kommen ja wieder," sagte Reinhard heftig; "sag es nur gerade
heraus, willst du mit mir reisen? Sonst geh' ich allein, und dann komme
ich nimmer wieder."
Der Kleinen kam das Weinen nahe. "Mach nur nicht so boese Augen," sagte
sie; "ich will ja mit nach Indien."
Reinhard fasste sie mit ausgelassener Freude bei beiden Haenden und zog
sie hinaus auf die Wiese.
"Nach Indien, nach Indien!" sang er und schwenkte sich mit ihr im
Kreise, dass ihr das rote Tuechelchen vom Halse flog. Dann aber liess
er sie ploetzlich los und sagte ernst:
"Es wird doch nichts daraus werden; du hast keine Courage."
"Elisabeth! Reinhard!" rief es jetzt von der Gartenpforte. "Hier!
Hier!" antworteten die Kinder und sprangen Hand in Hand nach Hause.
* * * * *
IM WALDE
So lebten die Kinder zusammen; sie war ihm oft zu still, er war ihr oft
zu heftig, aber sie liessen deshalb nicht von einander; fast alle
Freistunden teilten sie: winters in den beschraenkten Zimmern ihrer
Muetter, sommers in Busch und Feld.
Als Elisabeth einmal in Reinhards Gegenwart von dem Schullehrer
gescholten wurde, stiess er seine Tafel zornig auf den Tisch, um den
Eifer des Mannes auf sich zu lenken. Es wurde nicht bemerkt.
Aber Reinhard verlor alle Aufmerksamkeit an den geographischen
Vortraegen; statt dessen verfasste er ein langes Gedicht; darin
verglich er sich selbst mit einem jungen Adler, den Schulmeister mit
einer grauen Kraehe, Elisabeth war die weisse Taube; der Adler gelobte
an der grauen Kraehe Rache zu nehmen, sobald ihm die Fluegel gewachsen
sein wuerden.
Dem jungen Dichter standen die Traenen in den Augen; er kam sich sehr
erhaben vor. Als er nach Hause gekommen war, wusste er sich einen
kleinen Pergamentband mit vielen weissen Blaettern zu verschaffen; auf
die ersten Seiten schrieb er mit sorgsamer Hand sein erstes Gedicht.
Bald darauf kam er in eine andere Schule; hier schloss er manche neue
Kameradschaft mit Knaben seines Alters, aber sein Verkehr mit Elisabeth
wurde dadurch nicht gestoert. Von den Maerchen, welche er ihr sonst
erzaehlt und wieder erzaehlt hatte, fing er jetzt an, die, welche ihr
am besten gefallen hatten, aufzuschreiben; dabei wandelte ihn oft die
Lust an, etwas von seinen eigenen Gedanken hineinzudichten; aber, er
wusste nicht weshalb, er konnte immer nicht dazu gelangen.
So schrieb er sie genau auf, wie er sie selber gehoert hatte. Dann gab
er die Blaetter an Elisabeth, die sie in einem Schubfach ihrer
Schatulle sorgfaeltig aufbewahrte; und es gewaehrte ihm eine anmutige
Befriedigung, wenn er sie mitunter abends diese Geschichtchen in seiner
Gegenwart aus den von ihm geschriebenen Heften ihrer Mutter vorlesen
hoerte.
Sieben Jahre waren vorueber. Reinhard sollte zu seiner weitern
Ausbildung die Stadt verlassen. Elisabeth konnte sich nicht in den
Gedanken finden, dass es nun eine Zeit ganz ohne Reinhard geben werde.
Es freute sie, als er ihr eines Tages sagte, er werde, wie sonst,
Maerchen fuer sie aufschreiben; er wolle sie ihr mit den Briefen an
seine Mutter schicken; sie muesse ihm dann wieder schreiben, wie sie
ihr gefallen haetten.
Die Abreise rueckte heran; vorher aber kam noch mancher Reim in den
Pergamentband. Das allein war fuer Elisabeth ein Geheimnis, obgleich
sie die Veranlassung zu dem ganzen Buche und zu den meisten Liedern
war, welche nach und nach fast die Haelfte der weissen Blaetter
gefuellt hatten.
Es war im Juni; Reinhard sollte am andern Tage reisen. Nun wollte man
noch einmal einen festlichen Tag zusammen begehen. Dazu wurde eine
Landpartie nach einer der nahe gelegenen Holzungen in groesserer
Gesellschaft veranstaltet.
Der stundenlange Weg bis an den Saum des Waldes wurde zu Wagen
zurueckgelegt; dann nahm man die Proviantkoerbe herunter und
marschierte weiter. Ein Tannengehoelz musste zuerst durchwandert
werden; es war kuehl und daemmerig und der Boden ueberall mit feinen
Nadeln bestreut.
Nach halbstuendigem Wandern kam man aus dem Tannendunkel in eine
frische Buchenwaldung; hier war alles licht und gruen; mitunter brach
ein Sonnenstrahl durch die blaetterreichen Zweige; ein Eichkaetzchen
sprang ueber ihren Koepfen von Ast zu Ast.
Auf einem Platze, ueber welchem uralte Buchen mit ihren Kronen zu einem
durchsichtigen Laubgewoelbe zusammenwuchsen, machte die Gesellschaft
Halt. Elisabeths Mutter oeffnete einen der Koerbe; ein alter Herr warf
sich zum Proviantmeister auf.
"Alle um mich herum, ihr jungen Voegel!" rief er, "und merket genau,
was ich euch zu sagen habe. Zum Fruehstueck erhaelt jetzt ein jeder von
euch zwei trockene Wecken; die Butter ist zu Hause geblieben; die
Zukost muss sich ein jeder selber suchen. Es stehen genug Erdbeeren im
Walde, das heisst, fuer den, der sie zu finden weiss. Wer ungeschickt
ist, muss sein Brot trocken essen; so geht es ueberall im Leben. Habt
ihr meine Rede begriffen?"
"Ja wohl!" riefen die Jungen.
"Ja, seht," sagte der Alte, "sie ist aber noch nicht zu Ende. Wir Alten
haben uns im Leben schon genug umhergetrieben; darum bleiben wir jetzt
zu Haus, das heisst, hier unter diesen breiten Baeumen, und schaelen
die Kartoffeln und machen Feuer und ruesten die Tafel, und wenn die Uhr
zwoelf ist, so sollen auch die Eier gekocht werden.
"Dafuer seid ihr uns von euren Erdbeeren die Haelfte schuldig, damit
wir auch einen Nachtisch servieren koennen. Und nun geht nach Ost und
West und seid ehrlich."
Die Jungen machten allerlei schelmische Gesichter.
"Halt!" rief der alte Herr noch einmal. "Das brauche ich euch wohl
nicht zu sagen, wer keine findet, braucht auch keine abzuliefern; aber
das schreibt euch wohl hinter eure feinen Ohren, von uns Alten bekommt
er auch nichts. Und nun habt ihr fuer diesen Tag gute Lehren genug;
wenn ihr nun noch Erdbeeren dazu habt, so werdet ihr fuer heute schon
durchs Leben kommen."
Die Jungen waren derselben Meinung und begannen sich paarweise auf die
Fahrt zu machen.
"Komm, Elisabeth," sagte Reinhard, "ich weiss einen Erdbeerenschlag; du
sollst kein trockenes Brot essen."
Elisabeth knuepfte die gruenen Baender ihres Strohhuts zusammen und
hing ihn ueber den Arm. "So komm," sagte sie, "der Korb ist fertig."
Dann gingen sie in den Wald hinein, tiefer und tiefer; durch feuchte
Baumschatten, wo alles still war, nur unsichtbar ueber ihnen in den
Lueften das Geschrei der Falken; dann wieder durch dichtes Gestruepp,
so dicht, dass Reinhard vorangehen musste, um einen Pfad zu machen,
hier einen Zweig zu knicken, dort eine Ranke beiseite zu biegen. Bald
aber hoerte er hinter sich Elisabeth seinen Namen rufen. Er wandte sich
um.
"Reinhard!" rief sie, "warte doch, Reinhard!"
Er konnte sie nicht gewahr werden; endlich sah er sie in einiger
Entfernung mit den Straeuchern kaempfen; ihr feines Koepfchen schwamm
nur kaum ueber den Spitzen der Farnkraeuter. Nun ging er noch einmal
zurueck und fuehrte sie durch das Wirrnis der Kraeuter und Stauden auf
einen freien Platz hinaus, wo blaue Falter zwischen den einsamen
Waldblumen flatterten.
Reinhard strich ihr die feuchten Haare aus dem erhitzten Gesichtchen;
dann wollte er ihr den Strohhut aufsetzen, und sie wollte es nicht
leiden; aber dann bat er sie, und nun liess sie es doch geschehen.
"Wo bleiben denn aber deine Erdbeeren?" fragte sie endlich, indem sie
stehen blieb und einen tiefen Atemzug tat.
"Hier haben sie gestanden," sagte er, "aber die Kroeten sind uns
zuvorgekommen oder die Marder oder vielleicht die Elfen."
"Ja," sagte Elisabeth, "die Blaetter stehen noch da; aber sprich hier
nicht von Elfen. Komm nur, ich bin noch gar nicht muede; wir wollen
weiter suchen."
Vor ihnen war ein kleiner Bach, jenseits wieder der Wald. Reinhard hob
Elisabeth auf seine Arme und trug sie hinueber. Nach einer Weile traten
sie aus dem schattigen Laube wieder in eine weite Lichtung hinaus.
"Hier muessen Erdbeeren sein," sagte das Maedchen, "es duftet so suess.
Sie gingen suchend durch den sonnigen Raum; aber sie fanden keine.
"Nein," sagte Reinhard, "es ist nur der Duft des Heidekrautes."
Himbeerbuesche und Huelsendorn standen ueberall durcheinander, ein
starker Geruch von Heidekraeutern, welche abwechselnd mit kurzem Grase
die freien Stellen des Bodens bedeckten, erfuellte die Luft.
"Hier ist es einsam," sagte Elisabeth; "wo moegen die andern sein?"
An den Rueckweg hatte Reinhard nicht gedacht.
"Warte nur: woher kommt der Wind?" sagte er und hob seine Hand in die
Hoehe. Aber es kam kein Wind.
"Still," sagte Elisabeth, "mich duenkt, ich hoerte sie sprechen. Rufe
einmal dahinunter."
Reinhard rief durch die hohle Hand. "Kommt hierher!"
"Hierher!" rief es zurueck.
"Sie antworteten!" sagte Elisabeth und klatschte in die Haende.
"Nein, es war nichts, es war nur der Widerhall."
Elisabeth fasste Reinhards Hand. "Mir graut!" sagte sie.
"Nein," sagte Reinhard, "das muss es nicht. Hier ist es praechtig. Setz
dich dort in den Schatten zwischen die Kraeuter. Lass uns eine Weile
ausruhen; wir finden die andern schon."
Elisabeth setzte sich unter eine ueberhaengende Buche und lauschte
aufmerksam nach allen Seiten; Reinhard sass einige Schritte davon auf
einem Baumstumpf und sah schweigend nach ihr hinueber.
Die Sonne stand gerade ueber ihnen; es war gluehende Mittagshitze;
kleine goldglaenzende, stahlblaue Fliegen standen fluegelschwingend in
der Luft; rings um sie her ein feines Schwirren und Summen, und
manchmal hoerte man tief im Walde das Haemmern der Spechte und das
Kreischen der andern Waldvoegel.
"Horch," sagte Elisabeth, "es laeutet."
"Wo?" fragte Reinhard.
"Hinter uns. Hoerst du? Es ist Mittag."
"Dann liegt hinter uns die Stadt, und wenn wir in dieser Richtung
gerade durchgehen, so muessen wir die andern treffen."
So traten sie ihren Rueckweg an; das Erdbeerensuchen hatten sie
aufgegeben, denn Elisabeth war muede geworden. Endlich klang zwischen
den Baeumen hindurch das Lachen der Gesellschaft; dann sahen sie auch
ein weisses Tuch am Boden schimmern, das war die Tafel, und darauf
standen Erdbeeren in Huelle und Fuelle.
Der alte Herr hatte eine Serviette im Knopfloch und hielt den Jungen
die Fortsetzung seiner moralischen Reden, waehrend er eifrig an einem
Braten herumtranchierte.
"Da sind die Nachzuegler," riefen die Jungen, als sie Reinhard und
Elisabeth durch die Baeume kommen sahen.
"Hierher!" rief der alte Herr, "Tuecher ausgeleert, Huete umgekehrt!
Nun zeigt her, was ihr gefunden habt."
"Hunger und Durst!" sagte Reinhard.
"Wenn, das alles ist," erwiderte der Alte und hob ihnen die volle
Schuessel entgegen, "so muesst ihr es auch behalten. Ihr kennt die
Abrede; hier werden keine Muessiggaenger gefuettert."
Endlich liess er sich aber doch erbitten, und nun wurde Tafel gehalten;
dazu schlug die Drossel aus den Wacholderbueschen.
So ging der Tag hin.--Reinhard hatte aber doch etwas gefunden; waren es
keine Erdbeeren, so war es doch auch im Walde gewachsen. Als er nach
Hause gekommen war, schrieb er in seinen alten Pergamentband:
Hier an der Bergeshalde
Verstummet ganz der Wind;
Die Zweige haengen nieder,
Darunter sitzt das Kind
Sie sitzt im Thymiane,
Sie sitzt in lauter Duft;
Die blauen Fliegen summen
Und blitzen durch die Luft.
Es steht der Wald so schweigend,
Sie schaut so klug darein;
Um ihre braunen Locken
Hinfliesst der Sonnenschein.
Der Kuckuck lacht von ferne,
Es geht mir durch den Sinn:
Sie hat die goldnen Augen
Der Waldeskoenigin.
So war sie nicht allein sein Schuetzling, sie war ihm auch der Ausdruck
fuer alles Liebliche und Wunderbare seines aufgehenden Lebens.
* * * * *
DA STAND DAS KIND AM WEGE
Weihnachtsabend kam heran. Es war noch nachmittags, als Reinhard mit
andern Studenten im Ratskeller [Fussnote: Oder Rathauskeller. In fast
jeder grossen Stadt Deutschlands ist der Rathauskeller in ein Speise-
und Bierhaus verwandelt worden.] am alten Eichentisch zusammensass. Die
Lampen an den Waenden waren angezuendet, denn hier unten daemmerte es
schon; aber die Gaeste waren sparsam versammelt, die Kellner lehnten
muessig an den Mauerpfeilern.
In einem Winkel des Gewoelbes sassen ein Geigenspieler und ein
Zithermaedchen mit feinen zigeunerhaften Zuegen; sie hatten ihre
Instrumente auf dem Schoss liegen und schienen teilnahmslos vor sich
hinzusehen.
Am Studententische knallte ein Champagnerpfropfen. "Trinke, mein
boehmisch Liebchen!" rief ein junger Mann von junkerhaftem AEussern,
indem er ein volles Glas zu dem Maedchen hinueberreichte.
"Ich mag nicht," sagte sie, ohne ihre Stellung zu veraendern.
"So singe!" rief der Junker und warf ihr eine Silbermuenze in den
Schoss. Das Maedchen strich sich langsam mit den Fingern durch ihr
schwarzes Haar, waehrend der Geigenspieler ihr ins Ohr fluesterte; aber
sie warf den Kopf zurueck und stuetzte das Kinn auf ihre Zither.
"Fuer den spiel' ich nicht," sagte sie.
Reinhard sprang mit dem Glase in der Hand auf und stellte sich vor sie.
"Was willst du?" fragte sie trotzig.
"Deine Augen sehen."
"Was geh'n dich meine Augen an?"
Reinhard sah funkelnd auf sie nieder.
"Ich weiss wohl, sie sind falsch!"
Sie legte ihre Wange in die flache Hand und sah ihn lauernd an.
Reinhard hob sein Glas an den Mund.
"Auf deine schoenen suendhaften Augen!" sagte er und trank.
Sie lachte und warf den Kopf herum.
"Gib!" sagte sie, und indem sie ihre schwarzen Augen in die seinen
heftete, trank sie langsam den Rest. Dann griff sie einen Dreiklang und
sang mit tiefer leidenschaftlicher Stimme:
Heute, nur heute
Bin ich so schoen
Morgen, ach morgen
Muss alles vergeh'n!
Nur diese Stunde
Bist du noch mein;
Sterben, ach sterben
Soll ich allein!
Waehrend der Geigenspieler in raschem Tempo das Nachspiel einsetzte,
gesellte sich ein neuer Ankoemmling zu der Gruppe.
"Ich wollte dich abholen, Reinhard," sagte er. "Du warst schon fort;
aber das Christkind war bei dir eingekehrt."
"Das Christkind?" sagte Reinhard, "das kommt nicht mehr zu mir."
"Ei was! Dein ganzes Zimmer roch nach Tannenbaum und braunen Kuchen."
Reinhard setzte das Glas aus seiner Hand und griff nach seiner Muetze.
"Was willst du?" fragte das Maedchen.
"Ich komme schon wieder."
Sie runzelte die Stirn. "Bleib!" rief sie leise und sah ihn vertraulich
an.
Reinhard zoegerte. "Ich kann nicht," sagte er.
Sie stiess ihn lachend mit der Fussspitze. "Geh!" sagte sie, "du taugst
nichts; ihr taugt alle mit einander nichts." Und waehrend sie sich
abwandte, stieg Reinhard langsam die Kellertreppe hinauf.
Draussen auf der Strasse war es tiefe Daemmerung; er fuehlte die
frische Winterluft an seiner heissen Stirn. Hier und da fiel der helle
Schein eines brennenden Tannenbaums aus den Fenstern, dann und wann
hoerte man von drinnen das Geraeusch von kleinen Pfeifen und
Blechtrompeten und dazwischen jubelnde Kinderstimmen.
Scharen von Bettelkindern gingen von Haus zu Haus oder stiegen auf die
Treppengelaender und suchten durch die Fenster einen Blick in die
versagte Herrlichkeit zu gewinnen. Mitunter wurde auch eine Tuer
ploetzlich aufgerissen, und scheltende Stimmen trieben einen ganzen
Schwarm solcher kleinen Gaeste aus dem hellen Hause auf die dunkle
Gasse hinaus; anderswo wurde auf dem Hausflur ein altes Weihnachtslied
gesungen; es waren klare Maedchenstimmen darunter.
Reinhard hoerte sie nicht, er ging rasch an allem vorueber, aus einer
Strasse in die andere. Als er an seine Wohnung gekommen, war es fast
voellig dunkel geworden; er stolperte die Treppe hinauf und trat in
seine Stube.
Ein suesser Duft schlug ihm entgegen; das heimelte ihn an, das roch wie
zu Haus der Mutter Weihnachtsstube. Mit zitternder Hand zuendete er
sein Licht an; da lag ein maechtiges Paket auf dem Tisch, und als er es
oeffnete, fielen die wohlbekannten braunen Festkuchen heraus; auf
einigen waren die Anfangsbuchstaben seines Namens in Zucker
ausgestreut; das konnte niemand anders als Elisabeth getan haben.
Dann kam ein Paeckchen mit feiner gestickter Waesche zum Vorschein,
Tuecher und Manschetten, zuletzt Briefe von der Mutter und Elisabeth.
Reinhard oeffnete zuerst den letzteren; Elisabeth schrieb:
"Die schoenen Zuckerbuchstaben koennen Dir wohl erzaehlen, wer bei den
Kuchen mitgeholfen hat; dieselbe Person hat die Manschetten fuer Dich
gestickt. Bei uns wird es nun am Weihnachtsabend sehr still werden;
meine Mutter stellt immer schon um halb zehn ihr Spinnrad in die Ecke;
es ist gar so einsam diesen Winter, wo Du nicht hier bist.
"Nun ist auch vorigen Sonntag der Haenfling gestorben, den Du mir
geschenkt hattest; ich habe sehr geweint, aber ich hab' ihn doch immer
gut gewartet.
"Der sang sonst immer nachmittags, wenn die Sonne auf sein Bauer
schien; Du weisst, die Mutter hing so oft ein Tuch ueber, um ihn zu
geschweigen, wenn er so recht aus Kraeften sang.
"Da ist es nun noch stiller in der Kammer, nur dass Dein alter Freund
Erich uns jetzt mitunter besucht. Du sagtest uns einmal, er saehe
seinem braunen Ueberrock aehnlich. Daran muss ich nun immer denken,
wenn er zur Tuer hereinkommt, und es ist gar zu komisch; sag es aber
nicht zur Mutter, sie wird dann leicht verdriesslich.
"Rat, was ich Deiner Mutter zu Weihnachten schenke! Du raetst es nicht?
Mich selber! Der Erich zeichnet mich in schwarzer Kreide; ich habe ihm
dreimal sitzen muessen, jedesmal eine ganze Stunde.
"Es war mir recht zuwider, dass der fremde Mensch mein Gesicht so
auswendig lernte. Ich wollte auch nicht, aber die Mutter redete mir zu;
sie sagte, es wuerde der guten Frau Werner eine gar grosse Freude
machen.
"Aber Du haeltst nicht Wort, Reinhard. Du hast keine Maerchen
geschickt. Ich habe Dich oft bei Deiner Mutter verklagt; sie sagt dann
immer, Du habest jetzt mehr zu tun, als solche Kindereien. Ich glaub'
es aber nicht; es ist wohl anders."
Nun las Reinhard auch den Brief seiner Mutter, und als er beide Briefe
gelesen und langsam wieder zusammengefaltet und weggelegt hatte,
ueberfiel ihn ein unerbittliches Heimweh. Er ging eine Zeitlang in
seinem Zimmer auf und nieder: er sprach leise und dann
halbverstaendlich zu sich selbst:
Er waere fast verirret
Und wusste nicht hinaus;
Da stand das Kind am Wege
Und winkte ihm nach Haus.
Dann trat er an sein Pult, nahm einiges Geld heraus und ging wieder auf
die Strasse hinab. Hier war es mittlerweile stiller geworden; die
Weihnachtsbaeume waren ausgebrannt, die Umzuege der Kinder hatten
aufgehoert. Der Wind fegte durch die einsamen Strassen; Alte und Junge
sassen in ihren Haeusern familienweise zusammen; der zweite Abschnitt
des Weihnachtsabends hatte begonnen.
Als Reinhard in die Naehe des Ratskellers kam, hoerte er aus der Tiefe
herauf Geigenstrich und den Gesang des Zithermaedchens; nun klingelte
unten die Kellertuer, und eine dunkle Gestalt schwankte die breite,
matt erleuchtete Treppe herauf.
Reinhard trat in den Haeuserschatten und ging dann rasch vorueber. Nach
einer Weile erreichte er den erleuchteten Laden eines Juweliers, und
nachdem er hier ein kleines Kreuz mit roten Korallen eingehandelt
hatte, ging er auf demselben Wege, den er gekommen war, wieder zurueck.
Nicht weit von seiner Wohnung bemerkte er ein kleines, in klaegliche
Lumpen gehuelltes Maedchen an einer hohen Haustuer stehen, in
vergeblicher Bemuehung, sie zu oeffnen.
"Soll ich dir helfen?" sagte er.
Das Kind erwiderte nichts, liess aber die schwere Tuerklinke fahren.
Reinhard hatte schon die Tuer geoeffnet.
"Nein," sagte er, "sie koennten dich hinausjagen; komm mit mir! ich
will dir Weihnachtskuchen geben."
Dann machte er die Tuer wieder zu und fasste das kleine Maedchen an der
Hand, das stillschweigend mit ihm in seine Wohnung ging.
Er hatte das Licht beim Weggehen brennen lassen.
"Hier hast du Kuchen," sagte er und gab ihr die Haelfte seines ganzen
Schatzes in ihre Schuerze, nur keine mit den Zuckerbuchstaben.
"Nun geh nach Haus und gib deiner Mutter auch davon."
Das Kind sah mit einem scheuen Blick zu ihm hinauf; es schien solcher
Freundlichkeit ungewohnt und nichts darauf erwidern zu koennen.
Reinhard machte die Tuer auf und leuchtete ihr, und nun flog die Kleine
wie ein Vogel mit ihrem Kuchen die Treppe hinab und zum Hause hinaus.
Reinhard schuerte das Feuer in seinem Ofen an und stellte das bestaubte
Tintenfass auf seinen Tisch; dann setzte er sich hin und schrieb und
schrieb die ganze Nacht Briefe an seine Mutter, an Elisabeth.
Der Rest der Weihnachtskuchen lag unberuehrt neben ihm; aber die
Manschetten von Elisabeth hatte er angeknoepft, was sich gar wunderlich
zu seinem weissen Flausrock ausnahm. So sass er noch, als die
Wintersonne auf die gefrorenen Fensterscheiben fiel und ihm gegenueber
im Spiegel ein blasses, ernstes Antlitz zeigte.
* * * * *
DAHEIM
Als es Ostern geworden war, reiste Reinhard in die Heimat. Am Morgen
nach seiner Ankunft ging er zu Elisabeth.
"Wie gross du geworden bist," sagte er, als das schoene, schmaechtige
Maedchen ihm laechelnd entgegenkam. Sie erroetete, aber sie erwiderte
nichts; ihre Hand, die er beim Willkommen in die seine genommen, suchte
sie ihm sanft zu entziehen. Er sah sie zweifelnd an, das hatte sie
frueher nicht getan; nun war es, als trete etwas Fremdes zwischen sie.
Das blieb auch, als er schon laenger dagewesen, und als er Tag fuer Tag
immer wiedergekommen war. Wenn sie allein zusammensassen, entstanden
Pausen, die ihm peinlich waren, und denen er dann aengstlich
zuvorzukommen suchte. Um waehrend der Ferienzeit eine bestimmte
Unterhaltung zu haben, fing er an, Elisabeth in der Botanik zu
unterrichten, womit er sich in den ersten Monaten seines
Universitaetslebens angelegentlich beschaeftigt hatte.
Elisabeth, die ihm in allem zu folgen gewohnt und ueberdies lehrhaft
war, ging bereitwillig darauf ein. Nun wurden mehrere Male in der Woche
Exkursionen ins Feld oder in die Heide gemacht, und hatten sie dann
mittags die gruene Botanisierkapsel voll Kraut und Blumen nach Hause
gebracht, so kam Reinhard einige Stunden spaeter wieder, um mit
Elisabeth den gemeinschaftlichen Fund zu teilen.
In solcher Absicht trat er eines Nachmittags ins Zimmer, als Elisabeth
am Fenster stand und ein vergoldetes Vogelbauer, das er sonst dort
nicht gesehen, mit frischem Huehnerschwarm besteckte. Im Bauer sass ein
Kanarienvogel, der mit den Fluegeln schlug und kreischend nach
Elisabeths Finger pickte. Sonst hatte Reinhards Vogel an dieser Stelle
gehangen.
"Hat mein armer Haenfling sich nach seinem Tode in einen Goldfinken
verwandelt?" fragte er heiter.
"Das pflegen die Haenflinge nicht," sagte die Mutter, welche spinnend
im Lehnstuhl sass. "Ihr Freund Erich hat ihn heut' Mittag fuer
Elisabeth von seinem Hofe hereingeschickt."
"Von welchem Hofe?"
"Das wissen Sie nicht?"
"Was denn?"
"Dass Erich seit einem Monat den zweiten Hof seines Vaters am Immensee
[Fussnote: Der See der Immen, d. h. der Bienen.] angetreten hat?"
"Aber Sie haben mir kein Wort davon gesagt."
"Ei," sagte die Mutter, "Sie haben sich auch noch mit keinem Worte nach
Ihrem Freunde erkundigt. Er ist ein gar lieber, verstaendiger junger
Mann."
Die Mutter ging hinaus, um den Kaffee zu besorgen; Elisabeth hatte
Reinhard den Ruecken zugewandt und war noch mit dem Bau ihrer kleinen
Laube beschaeftigt.
"Bitte, nur ein kleines Weilchen," sagte sie; "gleich bin ich fertig."
Da Reinhard wider seine Gewohnheit nicht antwortete, so wandte sie sich
um. In seinen Augen lag ein ploetzlicher Ausdruck von Kummer, den sie
nie darin gewahrt hatte.
"Was fehlt dir, Reinhard?" fragte sie, indem sie nahe zu ihm trat.
"Mir?" sagte er gedankenlos und liess seine Augen traeumerisch in den
ihren ruhen.
"Du siehst so traurig aus."
"Elisabeth," sagte er, "ich kann den gelben
Vogel nicht leiden."
Sie sah ihn staunend an, sie verstand ihn nicht. "Du bist so
sonderbar," sagte sie.
Er nahm ihre beiden Haende, die sie ruhig in den seinen liess. Bald
trat die Mutter wieder herein. Nach dem Kaffee setzte diese sich an ihr
Spinnrad; Reinhard und Elisabeth gingen ins Nebenzimmer, um ihre
Pflanzen zu ordnen.
Nun wurden Staubfaeden gezaehlt, Blaetter und Blueten sorgfaeltig
ausgebreitet und von jeder Art zwei Exemplare zum Trocknen zwischen die
Blaetter eines grossen Folianten gelegt.
Es war sonnige Nachmittagsstille; nur nebenan schnurrte der Mutter
Spinnrad, und von Zeit zu Zeit wurde Reinhards gedaempfte Stimme
gehoert, wenn er die Ordnungen der Klassen der Pflanzen nannte oder
Elisabeths ungeschickte Aussprache der lateinischen Namen korrigierte.
"Mir fehlt noch von neulich die Maiblume," sagte sie jetzt, als der
ganze Fund bestimmt und geordnet war.
Reinhard zog einen kleinen weissen Pergamentband aus der Tasche. "Hier
ist ein Maiblumenstengel fuer dich," sagte er, indem er die
halbgetrocknete Pflanze herausnahm.
Als Elisabeth die beschriebenen Blaetter sah, fragte sie: "Hast du
wieder Maerchen gedichtet?"
"Es sind keine Maerchen," antwortete er und reichte ihr das Buch.
Es waren lauter Verse, die meisten fuellten hoechstens eine Seite.
Elisabeth wandte ein Blatt nach dem andern um; sie schien nur die
Ueberschriften zu lesen. "Als sie vom Schulmeister gescholten war."
"Als sie sich im Walde verirrt hatten." "Mit dem Ostermaerchen." "Als
sie mir zum erstenmal geschrieben hatte;" in der Weise lauteten fast
alle.
Reinhard blickte forschend zu ihr hin, und indem sie immer weiter
blaetterte, sah er, wie zuletzt auf ihrem klaren Antlitz ein zartes Rot
hervorbrach und es allmaehlich ganz ueberzog. Er wollte ihre Augen
sehen, aber Elisabeth sah nicht auf und legte das Buch am Ende
schweigend vor ihn hin.
"Gib mir es nicht so zurueck!" sagte er.
Sie nahm ein braunes Reis aus der Blechkapsel. "Ich will dein
Lieblingskraut hineinlegen," sagte sie und gab ihm das Buch in seine
Haende.
Endlich kam der letzte Tag der Ferienzeit und der Morgen der Abreise.
Auf ihre Bitte erhielt Elisabeth von der Mutter die Erlaubnis, ihren
Freund an den Postwagen zu begleiten, der einige Strassen von ihrer
Wohnung seine Station hatte.
Als sie vor die Haustuer traten, gab Reinhard ihr den Arm; so ging er
schweigend neben dem schlanken Maedchen her. Je naeher sie ihrem Ziele
kamen, desto mehr war es ihm, er habe ihr, ehe er auf so lange Abschied
nehme, etwas Notwendiges mitzuteilen, etwas, wovon aller Wert und alle
Lieblichkeit seines kuenftigen Lebens abhaenge, und doch konnte er sich
des erloesenden Wortes nicht bewusst werden. Das aengstigte ihn; er
ging immer langsamer.
"Du kommst zu spaet," sagte sie, "es hat schon zehn geschlagen auf St.
Marien."
Er ging aber darum nicht schneller. Endlich sagte er stammelnd:
"Elisabeth, du wirst mich nun in zwei Jahren gar nicht sehen--wirst du
mich wohl noch eben so lieb haben wie jetzt, wenn ich wieder da bin?"
Sie nickte und sah ihm freundlich ins Gesicht.
"Ich habe dich auch verteidigt;" sagte sie nach einer Pause.
"Mich? Gegen wen hattest du es noetig?"
"Gegen meine Mutter. Wir sprachen gestern abend, als du weggegangen
warst, noch lange ueber dich. Sie meinte, du seiest nicht mehr so gut,
wie du gewesen."
Reinhard schwieg einen Augenblick; dann aber nahm er ihre Hand in die
seine, und indem er ihr ernst in ihre Kinderaugen blickte, sagte er:
"Ich bin noch eben so gut, wie ich gewesen bin; glaube du das nur fest!
Glaubst du es, Elisabeth?"
"Ja," sagte sie.
Er liess ihre Hand los und ging rasch mit ihr durch die letzte Strasse.
Je naeher ihm der Abschied kam, desto freudiger war sein Gesicht; er
ging ihr fast zu schnell.
"Was hast du, Reinhard?" fragte sie.
"Ich habe ein Geheimnis, ein schoenes!" sagte er und sah sie mit
leuchtenden Augen an. "Wenn ich nach zwei Jahren wieder da bin, dann
sollst du es erfahren."
Mittlerweile hatten sie den Postwagen erreicht; es war noch eben Zeit
genug. Noch einmal nahm Reinhard ihre Hand. "Leb wohl!" sagte er, "leb
wohl, Elisabeth! Vergiss es nicht!"
Sie schuettelte mit dem Kopf. "Leb wohl!" sagte sie. Reinhard stieg
hinein, und die Pferde zogen an. Als der Wagen um die Strassenecke
rollte, sah er noch einmal ihre liebe Gestalt, wie sie langsam den Weg
zurueckging.
* * * * *
EIN BRIEF
Fast zwei Jahre nachher sass Reinhard vor seiner Lampe zwischen
Buechern und Papieren in Erwartung eines Freundes, mit welchem er
gemeinschaftliche Studien uebte. Man kam die Treppe herauf. "Herein!"
Es war die Wirtin. "Ein Brief fuer Sie, Herr Werner!" Dann entfernte
sie sich wieder.
Reinhard hatte seit seinem Besuch in der Heimat nicht an Elisabeth
geschrieben und von ihr keinen Brief mehr erhalten. Auch dieser war
nicht von ihr; es war die Hand seiner Mutter.
Reinhard brach und las, und bald las er folgendes:
"In Deinem Alter, mein liebes Kind, hat noch fast jedes Jahr sein
eigenes Gesicht: denn die Jugend laesst sich nicht aermer machen. Hier
ist auch manches anders geworden, was Dir wohl erstan weh tun wird,
wenn ich Dich sonst recht verstanden habe.
"Erich hat sich gestern endlich das Jawort von Elisabeth geholt,
nachdem er in dem letzten Vierteljahr zweimal vergebens angefragt
hatte. Sie hatte sich immer nicht dazu entschliessen koennen; nun hat
sie es endlich doch getan; sie ist auch noch gar zu jung. Die Hochzeit
wird bald sein, und die Mutter wird dann mit ihnen fortgehen."
* * * * *
IMMENSEE
Wiederum waren Jahre vorueber.--Auf einem abwaerts fuehrenden
schattigen Waldwege wanderte an einem warmen Fruehlingsnachmittage ein
junger Mann mit kraeftigem, gebraeuntem Antlitz.
Mit seinen ernsten dunkeln Augen sah er gespannt in die Ferne, als
erwarte er endlich eine Veraenderung des einfoermigen Weges, die jedoch
immer nicht eintreten wollte. Endlich kam ein Karrenfuhrwerk langsam
von unten herauf.
"Hollah! guter Freund!" rief der Wanderer dem nebengehenden Bauer zu,
"geht's hier recht nach Immensee?"
"Immer gerad' aus," antwortete der Mann, und rueckte an seinem
Rundhute.
"Hat's denn noch weit dahin?"
"Der Herr ist dicht davor. Keine halbe Pfeif' Tabak, so haben's den
See; das Herrenhaus liegt hart daran."
Der Bauer fuhr vorueber; der andere ging eiliger unter den Baeumen
entlang. Nach einer Viertelstunde hoerte ihm zur Linken ploetzlich der
Schatten auf; der Weg fuehrte an einen Abhang, aus dem die Gipfel
hundertjaehriger Eichen nur kaum hervorragten.
Ueber sie hinweg oeffnete sich eine weite, sonnige Landschaft. Tief
unten lag der See, ruhig, dunkelblau, fast ringsum von gruenen,
sonnenbeschienenen Waeldern umgeben; nur an einer Stelle traten sie
auseinander und gewaehrten eine tiefe Fernsicht, bis auch diese durch
blaue Berge geschlossen wurde.
Quer gegenueber, mitten in dem gruenen Laub der Waelder, lag es wie
Schnee darueber her; das waren bluehende Obstbaeume, und daraus hervor
auf dem hohen Ufer erhob sich das Herrenhaus, weiss mit roten Ziegeln.
Ein Storch flog vom Schornstein auf und kreiste langsam ueber dem
Wasser.
"Immensee!" rief der Wanderer.
Es war fast, als haette er jetzt das Ziel seiner Reise erreicht, denn
er stand unbeweglich und sah ueber die Gipfel der Baeume zu seinen
Fuessen hinueber ans andere Ufer, wo das Spiegelbild des Herrenhauses
leise schaukelnd auf dem Wasser schwamm. Dann setzte er ploetzlich
seinen Weg fort.
Es ging jetzt fast steil den Berg hinab, so dass die unten stehenden
Baeume wieder Schatten gewaehrten, zugleich aber die Aussicht auf den
See verdeckten, der nur zuweilen zwischen den Luecken der Zweige
hindurchblitzte.
Bald ging es wieder sanft empor, und nun verschwand rechts und links
die Holzung; statt dessen streckten sich dichtbelaubte Weinhuegel am
Wege entlang; zu beiden Seiten desselben standen bluehende Obstbaeume
voll summender wuehlender Bienen. Ein stattlicher Mann in braunem
Ueberrock kam dem Wanderer entgegen. Als er ihn fast erreicht hatte,
schwenkte er seine Muetze und rief mit heller Stimme:
"Willkommen, willkommen, Bruder Reinhard! Willkommen auf Gut Immensee!"
"Gott gruess' dich, [Fussnote: Dieser Gruss wird besonders in
Suddeutschland gebraucht.] Erich, und Dank fuer dein Willkommen!" rief
ihm der andere entgegen.
Dann waren sie zu einander gekommen und reichten sich die Haende.
"Bist du es denn aber auch?" sagte Erich, als er so nahe in das ernste
Gesicht seines alten Schulkameraden sah.
"Freilich bin ich's, Erich, und du bist es auch; nur siehst du fast
noch heiterer aus, als du schon sonst immer getan hast."
Ein frohes Laecheln machte Erichs einfache Zuege bei diesen Worten noch
um vieles heiterer.
"Ja, Bruder Reinhard," sagte er, diesem noch einmal seine Hand
reichend, "ich habe aber auch seitdem das grosse Los gezogen; du weisst
es ja."
Dann rieb er sich die Haende und rief vergnuegt: "Das wird eine
Ueberraschung! Den erwartet sie nicht, in alle Ewigkeit nicht!"
"Eine Ueberraschung?" fragte Reinhard. "Fuer wen denn?"
"Fuer Elisabeth."
"Elisabeth! Du hast ihr nicht von meinem Besuch gesagt?"
"Kein Wort, Bruder Reinhard; sie denkt nicht an dich, die Mutter auch
nicht. Ich hab' dich ganz im geheimen verschrieben, damit die Freude
desto groesser sei. Du weisst, ich hatte immer so meine stillen
Plaenchen."
Reinhard wurde nachdenklich; der Atem schien ihm schwer zu werden, je
naeher sie dem Hofe kamen.
An der linken Seite des Weges hoerten nun auch die Weingaerten auf und
machten einem weitlaeufigen Kuechengarten Platz, der sich bis fast an
das Ufer des Sees hinabzog. Der Storch hatte sich mittlerweile
niedergelassen und spazierte gravitaetisch zwischen den Gemuesebeeten
umher.
"Hollah!" rief Erich, in die Haende klatschend, "stiehlt mir der
hochbeinige Aegypter schon wieder meine kurzen Erbsenstangen!"
Der Vogel erhob sich langsam und flog auf das Dach eines neuen
Gebaeudes, das am Ende des Kuechengartens lag und dessen Mauern mit
aufgebundenen Pfirsich- und Aprikosenbaeumen ueberzweigt waren.
"Das ist die Spritfabrik," sagte Erich; "ich habe sie erst vor zwei
Jahren angelegt. Die Wirtschaftsgebaeude hat mein seliger Vater neu
aussetzen lassen; das Wohnhaus ist schon von meinem Grossvater gebaut
worden. So kommt man immer ein bisschen weiter."
Sie waren bei diesen Worten auf einen geraeumigen Platz gekommen, der
an den Seiten durch die laendlichen Wirtschaftsgebaeude, im
Hintergrunde durch das Herrenhaus begrenzt wurde, an dessen beide
Fluegel sich eine hohe Gartenmauer anschloss; hinter dieser sah man die
Zuege dunkler Taxuswaende und hin und wieder liessen Syringenbaeume
ihre bluehenden Zweige in den Hofraum hinunterhaengen.
Maenner mit sonnen- und arbeitsheissen Gesichtern gingen ueber den
Platz und gruessten die Freunde, waehrend Erich dem einen oder dem
andern einen Auftrag oder eine Frage ueber ihr Tagewerk entgegenrief.
Dann hatten sie das Haus erreicht. Ein hoher, kuehler Hausflur nahm sie
auf, an dessen Ende sie links in einen etwas dunkleren Seitengang
einbogen.
Hier oeffnete Erich eine Tuer, und sie traten in einen geraeumigen
Gartensaal, der durch das Laubgedraenge, welches die
gegenueberliegenden Fenster bedeckte, zu beiden Seiten mit gruener
Daemmerung erfuellt war; zwischen diesen aber liessen zwei hohe, weit
geoeffnete Fluegeltueren den vollen Glanz der Fruehlingssonne
hereinfallen und gewaehrten die Aussicht in einen Garten mit
gezirkelten Blumenbeeten und hohen steilen Laubwaenden, geteilt durch
einen geraden, breiten Gang, durch welchen man auf den See und weiter
auf die gegenueberliegenden Waelder hinaussah.
Als die Freunde hineintraten, trug die Zugluft ihnen einen Strom von
Duft entgegen.
Auf einer Terrasse vor der Gartentuer sass eine weisse, maedchenhafte
Frauengestalt. Sie stand auf und ging den Eintretenden entgegen; auf
halbem Wege blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte den Fremden
unbeweglich an. Er streckte ihr laechelnd die Hand entgegen.
"Reinhard!" rief sie, "Reinhard! Mein Gott, du bist es!--Wir haben uns
lange nicht gesehen."
"Lange nicht," sagte er und konnte nichts weiter sagen; denn als er
ihre Stimme hoerte, fuehlte er einen feinen koerperlichen Schmerz am
Herzen, und wie er zu ihr aufblickte, stand sie vor ihm, dieselbe
leichte zaertliche Gestalt, der er vor Jahren in seiner Vaterstadt
Lebewohl gesagt hatte.
Erich war mit freudestrahlendem Antlitz an der Tuer zurueckgeblieben.
"Nun, Elisabeth?" sagte er; "gelt! den haettest du nicht erwartet, den
in alle Ewigkeit nicht!"
Elisabeth sah ihn mit schwesterlichen Augen an.
"Du bist so gut, Erich!" sagte sie.
Er nahm ihre schmale Hand liebkosend in die seinen. "Und nun wir ihn
haben," sagte er, "nun lassen wir ihn so bald nicht wieder los. Er ist
so lange draussen gewesen; wir wollen ihn wieder heimisch machen. Schau
nur, wie fremd und vornehm aussehend er worden ist!"
Ein scheuer Blick Elisabeths streifte Reinhards Antlitz. "Es ist nur
die Zeit, die wir nicht beisammen waren," sagte er.
In diesem Augenblick kam die Mutter, mit einem Schluesselkoerbchen am
Arm, zur Tuer herein.
"Herr Werner!" sagte sie, als sie Reinhard erblickte; "ei, ein eben so
lieber als unerwarteter Gast."
Und nun ging die Unterhaltung in Fragen und Antworten ihren ebenen
Tritt. Die Frauen setzten sich zu ihrer Arbeit, und waehrend Reinhard
die fuer ihn bereiteten Erfrischungen genoss, hatte Erich seinen
soliden Meerschaumkopf angebrannt und sass dampfend und diskutierend an
seiner Seite.
Am andern Tage musste Reinhard mit ihm hinaus auf die AEcker, in die
Weinberge, in den Hopfengarten, in die Spritfabrik. Es war alles wohl
bestellt; die Leute, welche auf dem Felde und bei den Kesseln
arbeiteten, hatten alle ein gesundes und zufriedenes Aussehen.
Zu Mittag kam die Familie im Gartensaal zusammen, und der Tag wurde
dann, je nach der Musse der Wirte, mehr oder minder gemeinschaftlich
verlebt. Nur die Stunden vor dem Abendessen, wie die ersten des
Vormittags, blieb Reinhard arbeitend auf seinem Zimmer.
Er hatte seit Jahren, wo er deren habhaft werden konnte, die im Volke
lebenden Reime und Lieder gesammelt und ging nun daran, seinen Schatz
zu ordnen und wo moeglich mit neuen Aufzeichnungen aus der Umgegend zu
vermehren.
Elisabeth war zu allen Zeiten sanft und freundlich; Erichs immer
gleichbleibende Aufmerksamkeit nahm sie mit einer fast demuetigen
Dankbarkeit auf, und Reinhard dachte mitunter, das heitere Kind von
ehedem habe wohl eine weniger stille Frau versprochen.
Seit dem zweiten Tage seines Hierseins pflegte er abends einen
Spaziergang an den Ufern des Sees zu machen. Der Weg fuehrte hart unter
dem Garten vorbei. Am Ende desselben, auf einer vorspringenden Bastei,
stand eine Bank unter hohen Birken; die Mutter hatte sie die Abendbank
getauft, weil der Platz gegen Abend lag und des Sonnenuntergangs halber
um diese Zeit am meisten benutzt wurde.
Von einem Spaziergange auf diesem Wege kehrte Reinhard eines Abends
zurueck, als er vom Regen ueberrascht wurde. Er suchte Schutz unter
einer am Wasser stehenden Linde, aber die schweren Tropfen schlugen
bald durch die Blaetter. Durchnaesst, wie er war, ergab er sich darein
und setzte langsam seinen Rueckweg fort.
Es war fast dunkel; der Regen fiel immer dichter. Als er sich der
Abendbank naeherte, glaubte er zwischen den schimmernden Birkenstaemmen
eine weisse Frauengestalt zu unterscheiden. Sie stand unbeweglich und,
wie er beim Naeherkommen zu erkennen meinte, zu ihm hingewandt, als
wenn sie jemanden erwarte.
Er glaubte, es sei Elisabeth. Als er aber rascher zuschritt, um sie zu
erreichen und dann mit ihr zusammen durch den Garten ins Haus
zurueckzukehren, wandte sie sich langsam ab und verschwand in den
dunkeln Seitengaengen.
Er konnte das nicht reimen; er war aber fast zornig auf Elisabeth, und
dennoch zweifelte er, ob sie es gewesen sei; aber er scheute sich, sie
darnach zu fragen; ja, er ging bei seiner Rueckkehr nicht in den
Gartensaal, nur um Elisabeth nicht etwa durch die Gartentuer
hereintreten zu sehen.
* * * * *
MEINE MUTTER HAT'S GEWOLLT
Einige Tage nachher, es ging schon gegen Abend, sass die Familie, wie
gewoehnlich um diese Zeit, im Gartensaal zusammen. Die Tueren standen
offen; die Sonne war schon hinter den Waeldern jenseits des Sees.
Reinhard wurde um die Mitteilung einiger Volkslieder gebeten, welche er
am Nachmittage von einem auf dem Lande wohnenden Freunde geschickt
bekommen hatte. Er ging auf sein Zimmer und kam gleich darauf mit einer
Papierrolle zurueck, welche aus einzelnen sauber geschriebenen
Blaettern zu bestehen schien.
Man setzte sich an den Tisch, Elisabeth an Reinhards Seite. "Wir lesen
auf gut Glueck," sagte er, "ich habe sie selber noch nicht
durchgesehen." Elisabeth rollte das Manuskript auf. "Hier sind Noten,"
sagte sie, "das musst du singen, Reinhard."
Und dieser las nun zuerst einige tiroler Schnaderhuepfel, [Fussnote:
Dialektisch fuer "Schnitterhuepfen," d. h. Schnitter-Taenze oder
Lieder, die besonders in Tirol und in Bayern gesungen werden.] indem er
beim Lesen zuweilen die lustige Melodie mit halber Stimme anklingen
liess. Eine allgemeine Heiterkeit bemaechtigte sich der kleinen
Gesellschaft. "Wer hat doch aber die schoenen Lieder gemacht?" fragte
Elisabeth.
"Ei," sagte Erich, "das hoert man den Dingern schon an,
Schneidergesellen und Friseure und derlei lustiges Gesindel."
Reinhard sagte: "Sie werden gar nicht gemacht; sie wachsen; sie fallen
aus der Luft, sie fliegen ueber Land wie Mariengarn, [Fussnote: Der
Volksglaube hat dieses feine Gewebe von Feldspinnen immer in Verbindung
mit den Goettern gebracht. Nach Einfuehrung des Christentums wurde es
auf die Jungfrau Maria bezogen: aus dem feinsten Faden soll das
Leichenkleid gewoben worden sein, worin Maria nach ihrem Tod
eingehuellt wurde. Waehrend ihrer Himmelfahrt waere das Gewebe wieder
von ihr losgebrochen.] hierhin und dorthin und werden an tausend
Stellen zugleich gesungen. Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in
diesen Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen haetten."
Er nahm ein anderes Blatt: "Ich stand auf hohen Bergen..." [Fussnote:
Ein altes Volkslied von einem schoenen aber armen Maedchen, das den
jungen Grafen nicht heiraten konnte, und sich in ein Kloster
zurueckzog.]
"Das kenne ich!" rief Elisabeth. "Stimme nur an, Reinhard; ich will dir
helfen."
Und nun sangen sie jene Melodie, die so raetselhaft ist, dass man nicht
glauben kann, sie sei von Menschen erdacht worden; Elisabeth mit ihrer
etwas verdeckten Altstimme dem Tenor sekundierend.
Die Mutter sass inzwischen emsig an ihrer Naeherei; Erich hatte die
Haende in einander gelegt und hoerte andaechtig zu. Als das Lied zu
Ende war, legte Reinhard das Blatt schweigend bei Seite. Vom Ufer des
Sees herauf kam durch die Abendstille das Gelaeute der Herdenglocken;
sie horchten unwillkuerlich; da hoerten sie eine klare Knabenstimme
singen:
Ich stand auf hohen Bergen
Und sah ins tiefe Tal...
Reinhard laechelte: "Hoert ihr es wohl? So geht's von Mund zu Mund."
"Es wird oft in dieser Gegend gesungen," sagte Elisabeth.
"Ja," sagte Erich, "es ist der Hirtenkasper; er treibt die Starken
[Fussnote: Sueddialektisch fuer "die Faersen."] heim."
Sie horchten noch eine Weile, bis das Gelaeute hinter den
Wirtschaftsgebaeuden verschwunden war. "Das sind Urtoene," sagte
Reinhard; "sie schlafen in Waldesgruenden; Gott weiss, wer sie gefunden
hat."
Er zog ein neues Blatt heraus.
Es war schon dunkler geworden; ein roter Abendschein lag wie Schaum auf
den Waeldern jenseits des Sees. Reinhard rollte das Blatt auf,
Elisabeth legte an der einen Seite ihre Hand darauf und sah mit hinein.
Dann las Reinhard:
Meine Mutter hat's gewollt,
Den andern ich nehmen sollt':
Was ich zuvor besessen,
Mein Herz sollt' es vergessen;
Das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag' ich an,
Sie hat nicht wohl getan;
Was sonst in Ehren stuende,
Nun ist es worden Suende.
Was fang' ich an!
Fuer all' mein' Stolz und Freud'
Gewonnen hab' ich Leid.
Ach, waer' das nicht geschehen,
Ach, koennt' ich betteln gehen
Ueber die braune Heid'!
Waehrend des Lesens hatte Reinhard ein unmerkliches Zittern des Papiers
empfunden; als er zu Ende war, schob Elisabeth leise ihren Stuhl
zurueck und ging schweigend in den Garten hinab. Ein Blick der Mutter
folgte ihr. Erich wollte nachgehen; doch die Mutter sagte: "Elisabeth
hat draussen zu tun." So unterblieb es.
Draussen aber legte sich der Abend mehr und mehr ueber Garten und See;
die Nachtschmetterlinge schossen surrend an den offenen Tueren
vorueber, durch welche der Duft der Blumen und Gestraeuche immer
staerker hereindrang; vom Wasser herauf kam das Geschrei der Froesche,
unter den Fenstern schlug eine Nachtigall, tiefer im Garten eine
andere; der Mond sah ueber die Baeume.
Reinhard blickte noch eine Weile auf die Stelle, wo Elisabeths feine
Gestalt zwischen den Laubgaengen verschwunden war; dann rollte er sein
Manuskript zusammen, gruesste die Anwesenden und ging durchs Haus an
das Wasser hinab.
Die Waelder standen schweigend und warfen ihr Dunkel weit auf den See
hinaus, waehrend die Mitte desselben in schwueler Mondesdaemmerung lag.
Mitunter schauerte ein leises Saeuseln durch die Baeume; aber es war
kein Wind, es war nur das Atmen der Sommernacht.
Reinhard ging immer am Ufer entlang. Einen Steinwurf vom Lande konnte
er eine weisse Wasserlilie erkennen. Auf einmal wandelte ihn die Lust
an, sie in der Naehe zu sehen; er warf seine Kleider ab und stieg ins
Wasser. Es war flach; scharfe Pflanzen und Steine schnitten ihn an den
Fuessen, und er kam immer nicht in die zum Schwimmen noetige Tiefe.
Dann war es ploetzlich unter ihm weg, die Wasser quirlten ueber ihm
zusammen, und es dauerte eine Zeitlang, ehe er wieder auf die
Oberflaeche kam. Nun regte er Hand und Fuss und schwamm im Kreise
umher, bis er sich bewusst geworden, von wo er hineingegangen war. Bald
sah er auch die Lilie wieder; sie lag einsam zwischen den grossen
blanken Blaettern.
Er schwamm langsam hinaus und hob mitunter die Arme aus dem Wasser,
dass die herabrieselnden Tropfen im Mondlichte blitzten; aber es war,
als ob die Entfernung zwischen ihm und der Blume dieselbe bliebe; nur
das Ufer lag, wenn er sich umblickte, in immer ungewisserem Dufte
hinter ihm. Er gab indes sein Unternehmen nicht auf, sondern schwamm
ruestig in derselben Richtung fort.
Endlich war er der Blume so nahe gekommen, dass er die silbernen
Blaetter deutlich im Mondlicht unterscheiden konnte; zugleich aber
fuehlte er sich in einem Netze verstrickt, die glatten Stengel langten
vom Grunde herauf und rankten sich an seine nackten Glieder.
Das unbekannte Wasser lag so schwarz um ihn her, hinter sich hoerte er
das Springen eines Fisches; es wurde ihm ploetzlich so unheimlich in
dem fremden Elemente, dass er mit Gewalt das Gestrick der Pflanzen
zerriss und in atemloser Hast dem Lande zuschwamm. Als er von hier auf
den See zurueckblickte, lag die Lilie wie zuvor fern und einsam ueber
der dunklen Tiefe.
Er kleidete sich an und ging langsam nach Hause zurueck. Als er aus dem
Garten in den Saal trat, fand er Erich und die Mutter in den
Vorbereitungen einer kleinen Geschaeftsreise, welche am andern Tage vor
sich gehen sollte.
"Wo sind Sie denn so spaet in der Nacht gewesen?" rief ihm die Mutter
entgegen.
"Ich?" erwiderte er; "ich wollte die Wasserlilie besuchen; es ist aber
nichts daraus geworden."
"Das versteht wieder einmal kein Mensch!" sagte Erich. "Was Tausend
hattest du denn mit der Wasserlilie zu tun?"
"Ich habe sie frueher einmal gekannt," sagte Reinhard; "es ist aber
schon lange her."
* * * * *
ELISABETH
Am folgenden Nachmittag wanderten Reinhard und Elisabeth jenseits des
Sees bald durch die Holzung, bald auf dem vorspringenden Uferrande.
Elisabeth hatte von Erich den Auftrag erhalten, waehrend seiner und der
Mutter Abwesenheit Reinhard mit den schoensten Aussichten der naechsten
Umgegend, namentlich von der andern Uferseite auf den Hof selber,
bekannt zu machen. Nun gingen sie von einem Punkt zum andern.
Endlich wurde Elisabeth muede und setzte sich in den Schatten
ueberhaengender Zweige; Reinhard stand ihr gegenueber, an einen
Baumstamm gelehnt; da hoerte er tiefer im Walde den Kuckuck rufen, und
es kam ihm ploetzlich, dies alles sei schon einmal eben so gewesen. Er
sah sie seltsam laechelnd an.
"Wollen wir Erdbeeren suchen?" fragte er.
"Es ist keine Erdbeerenzeit," sagte sie.
"Sie wird aber bald kommen." Elisabeth schuettelte schweigend den
Kopf; dann stand sie auf, und beide setzten ihre Wanderung fort; und
wie sie so an seiner Seite ging, wandte sein Blick sich immer wieder
nach ihr hin; denn sie ging schoen, als wenn sie von ihren Kleidern
getragen wuerde. Er blieb oft unwillkuerlich einen Schritt zurueck, um
sie ganz und voll ins Auge fassen zu koennen.
So kamen sie an einen freien, heidebewachsenen Platz mit einer weit ins
Land reichenden Aussicht. Reinhard bueckte sich und pflueckte etwas von
den am Boden wachsenden Kraeutern. Als er wieder aufsah, trug sein
Gesicht den Ausdruck leidenschaftlichen Schmerzes.
"Kennst du diese Blume?" fragte er.
Sie sah ihn fragend an. "Es ist eine Erika. Ich habe sie oft im Walde
gepflueckt."
"Ich habe zu Hause ein altes Buch," sagte er; "ich pflegte sonst
allerlei Lieder und Reime hineinzuschreiben; es ist aber lange nicht
mehr geschehen. Zwischen den Blaettern liegt auch eine Erika; aber es
ist nur eine verwelkte. Weisst du, wer sie mir gegeben hat?"
Sie nickte stumm; aber sie schlug die Augen nieder und sah nur auf das
Kraut, das er in der Hand hielt. So standen sie lange. Als sie die
Augen gegen ihn aufschlug, sah er, dass sie voll Traenen waren.
"Elisabeth," sagte er,--"hinter jenen blauen Bergen liegt unsere
Jugend. Wo ist sie geblieben?"
Sie sprachen nichts mehr; sie gingen stumm neben einander zum See
hinab. Die Luft war schwuel, im Westen stieg schwarzes Gewoelk auf. Es
wird gewittern," sagte Elisabeth, indem sie ihren Schritt beeilte;
Reinhard nickte schweigend, und beide gingen rasch am Ufer entlang, bis
sie ihren Kahn erreicht hatten.
Waehrend der Ueberfahrt liess Elisabeth ihre Hand auf dem Rande des
Kahnes ruhen. Er blickte beim Rudern zu ihr hinueber; sie aber sah an
ihm vorbei in die Ferne. So glitt sein Blick herunter und blieb auf
ihrer Hand; und die blasse Hand verriet ihm, was ihr Antlitz ihm
verschwiegen hatte.
Er sah auf ihr jenen feinen Zug geheimen Schmerzes, der sich so gern
schoener Frauenhaende bemaechtigt, die nachts auf krankem Herzen
liegen. Als Elisabeth sein Auge auf ihrer Hand ruhen fuehlte, liess sie
sie langsam ueber Bord ins Wasser gleiten.
Auf dem Hofe angekommen trafen sie einen Scherenschleiferkarren vor dem
Herrenhause; ein Mann mit schwarzen, niederhaengenden Locken trat emsig
das Rad und summte eine Zigeunermelodie zwischen den Zaehnen, waehrend
ein eingeschirrter Hund schnaufend daneben lag. Auf dem Hausflur stand
in Lumpen gehuellt ein Maedchen mit verstoerten schoenen Zuegen und
streckte bettelnd die Hand gegen Elisabeth aus.
Reinhard griff in seine Tasche, aber Elisabeth kam ihm zuvor und
schuettete hastig den ganzen Inhalt ihrer Boerse in die offene Hand der
Bettlerin. Dann wandte sie sich eilig ab, und Reinhard hoerte, wie sie
schluchzend die Treppe hinaufging.
Er wollte sie aufhalten, aber er besann sich und blieb an der Treppe
zurueck. Das Maedchen stand noch immer auf dem Flur, unbeweglich, das
empfangene Almosen in der Hand.
"Was willst du noch?" fragte Reinhard.
Sie fuhr zusammen. "Ich will nichts mehr," sagte sie; dann den Kopf
nach ihm zurueckwendend, ihn anstarrend mit den verirrten Augen, ging
sie langsam gegen die Tuer. Er rief einen Namen aus, aber sie hoerte es
nicht mehr; mit gesenktem Haupte, mit ueber der Brust gekreuzten Armen
schritt sie ueber den Hof hinab:
Sterben, ach! sterben
Soll ich allein!
Ein altes Lied brauste ihm ins Ohr, der Atem stand ihm still; eine
kurze Weile, dann wandte er sich ab und ging auf sein Zimmer.
Er setzte sich hin, um zu arbeiten, aber er hatte keine Gedanken.
Nachdem er es eine Stunde lang vergebens versucht hatte, ging er ins
Familienzimmer hinab. Es war niemand da, nur kuehle gruene Daemmerung;
auf Elisabeths Naehtisch lag ein rotes Band, das sie am Nachmittag um
den Hals getragen hatte. Er nahm es in die Hand, aber es tat ihm weh,
und er legte es wieder hin.
Er hatte keine Ruhe, er ging an den See hinab und band den Kahn los; er
ruderte hinueber und ging noch einmal alle Wege, die er kurz vorher mit
Elisabeth zusammen gegangen war. Als er wieder nach Hause kam, war es
dunkel; auf dem Hofe begegnete ihm der Kutscher, der die Wagenpferde
ins Gras bringen wollte; die Reisenden waren eben zurueckgekehrt.
Bei seinem Eintritt in den Hausflur hoerte er Erich im Gartensaal auf
und ab schreiten. Er ging nicht zu ihm hinein; er stand einen
Augenblick still und stieg dann leise die Treppe hinauf nach seinem
Zimmer. Hier setzte er sich in den Lehnstuhl ans Fenster; er tat vor
sich selbst, als wolle er die Nachtigall hoeren, die unten in den
Taxuswaenden schlug; aber er hoerte nur den Schlag seines eigenen
Herzens. Unter ihm im Hause ging alles zur Ruhe, die Nacht verrann, er
fuehlte es nicht.
So sass er stundenlang. Endlich stand er auf und legte sich ins offene
Fenster. Der Nachttau rieselte zwischen den Blaettern, die Nachtigall
hatte aufgehoert zu schlagen. Allmaehlich wurde auch das tiefe Blau des
Nachthimmels vom Osten her durch einen blassgelben Schimmer verdraengt;
ein frischer Wind erhob sich und streifte Reinhards heisse Stirne; die
erste Lerche stieg jauchzend in die Luft.
Reinhard kehrte sich ploetzlich um und trat an den Tisch: er tappte
nach einem Bleistift, und als er diesen gefunden, setzte er sich und
schrieb damit einige Zeilen auf einen weissen Bogen Papier. Nachdem er
hiermit fertig war, nahm er Hut und Stock, und das Papier
zuruecklassend oeffnete er behutsam die Tuer und stieg in den Flur
hinab.
Die Morgendaemmerung ruhte noch in allen Winkeln; die grosse Hauskatze
dehnte sich auf der Strohmatte und straeubte den Ruecken gegen seine
Hand, die er gedankenlos entgegenhielt. Draussen im Garten aber
priesterten [Fussnote: d. h. "sangen schon die Sperlinge grossartig,
wie Priester." Das Wort scheint von Storm geschmiedet zu sein; es ist
nicht anderswo zu finden.] schon die Sperlinge von den Zweigen und
sagten es allen, dass die Nacht vorbei sei.
Da hoerte er oben im Hause eine Tuer gehen; es kam die Treppe herunter,
und als er aufsah, stand Elisabeth vor ihm. Sie legte die Hand auf
seinen Arm, sie bewegte die Lippen, aber er hoerte keine Worte.
"Du kommst nicht wieder," sagte sie endlich. "Ich weiss es, luege
nicht; du kommst nie wieder."
"Nie," sagte er.
Sie liess ihre Hand sinken und sagte nichts mehr. Er ging ueber den
Flur der Tuere zu; dann wandte er sich noch einmal. Sie stand
bewegungslos an derselben Stelle und sah ihn mit toten Augen an. Er tat
einen Schritt vorwaerts und streckte die Arme nach ihr aus. Dann kehrte
er sich gewaltsam ab und ging zur Tuer hinaus.
Draussen lag die Welt im frischen Morgenlichte, die Tauperlen, die in
den Spinnengeweben hingen, blitzten in den ersten Sonnenstrahlen. Er
sah nicht rueckwaerts; er wanderte rasch hinaus; und mehr und mehr
versank hinter ihm das stille Gehoeft, und vor ihm auf stieg die grosse
weite Welt.
* * * * *
DER ALTE
Der Mond schien nicht mehr in die Fensterscheiben; es war dunkel
geworden; der Alte aber sass noch immer mit gefalteten Haenden in
seinem Lehnstuhl und blickte vor sich hin in den Raum des Zimmers.
Allmaehlich verzog sich vor seinen Augen die schwarze Daemmerung um ihn
her zu einem breiten dunkeln See; ein schwarzes Gewaesser legte sich
hinter das andere, immer tiefer und ferner, und auf dem letzten, so
fern, dass die Augen des Alten sie kaum erreichten, schwamm einsam
zwischen breiten Blaettern eine weisse Wasserlilie.
Die Stubentuer ging auf, und ein heller Lichtschimmer fiel ins Zimmer.
"Es ist gut, dass Sie kommen, Brigitte," sagte der Alte. "Stellen Sie
das Licht auf den Tisch!"
Dann rueckte er auch den Stuhl zum Tisch, nahm eines der
aufgeschlagenen Buecher und vertiefte sich in Studien, an denen er
einst die Kraft seiner Jugend geuebt hatte.
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